Wir benötigten sechs Autos, um von Kappadokien nach Gaziantep zu kommen. Wir waren froh, dass wir die Strecke von 409 km an einem Tag geschafft hatten.
Eines der Autos, in dem wir mitfuhren, war ein nagelneuer Range Rover mit brauner Lederausstattung. Wir trauten uns gar nicht, mit unserer schmutzigen Kleidung in das saubere Auto einzusteigen und hätten wir vorher gewusst, wer Beifahrer und Fahrer waren, dann noch weniger. Sarfet Aslan war Eigentümer einer großen Firma, an der er dann auch ausstieg. Überraschenderweise gab er dann seinem Fahrer Soner den Auftrag, uns quer durch die Stadt zur Autobahn zu bringen, die nach Pinarbaşi führt. Dort mussten wir nämlich hin, um weiterzukommen.
Und so kam es, dass wir in einem Range Rover saßen, mit unserem eigenen persönlichen Chauffeur.
Wir hatten Glück, dass LKW-Fahrer Abdul uns den ganzen Weg von Pinarbasi nach Gaziantep fuhr. Dies war unser Ziel für die kommende Nacht. Wir waren glücklich, wussten aber gleichzeitig auch, dass es länger dauern würde als mit einem normalen Auto zu fahren. Der mit Möbeln beladene Lastwagen erklomm die vielen Berge fast nur im Schritttempo. Abdul’s Freund saß in einem anderem LKW, der uns immer wieder überholte und sich dabei zum Beispiel die Zähne putzte. Es wurde zu einem Spiel zwischen den Beiden, sich gegenseitig zu überholen. Beide waren sehr lustig, auch wenn wir ihre Sprache nicht verstanden. Aber auch wir hatten unseren Spaß. Da ihr Job normalerweise nicht sehr aufregend ist, genossen sie unsere Gesellschaft.
Die Sonne ging bereits unter, als wir Gaziantep erreichten. Es fehlten uns noch 20 km bis zu unserem Couchsurfing-Gastgeber namens Baris. Unseren Drop-off Punkt auf der Autobahn verließen wir, um eine Mitfahrgelegenheit in die Stadt zu suchen. Dafür mussten wir eine Art Grenzkontrolle passieren. Da wir uns in der Nähe der syrischen Grenze befanden, spürten wir direkt eine gewisse Anspannung. Die Grenzkontrolleure waren bewaffnet und verlangten direkt unsere Pässe zu sehen. Es war das erste Mal, dass unsere Pässe kontrolliert wurden. Sie akzeptierten unsere Pässe und gaben uns den Rat, einen Bus zu nehmen, anstatt eine Mitfahrgelegenheit zu suchen.
Wir befolgten den Rat, da wir uns hier nicht auskannten und die Situation für uns schwer einzuschätzen war.
Im Bus half uns ein Mann, den Weg zur Universität von Gaziantep zu finden. Dort wollten wir Baris in einem Park treffen. Er teilte uns per SMS mit, dass wir an einem Mülleimer auf ihn warten sollten. Ich war mir nicht sicher, ob dies ein seriöser Treffpunkt und Couchsurfer ist. Aber tatsächlich holte Baris uns dort ab und nahm uns mit in sein Office.
Er bot uns mehrere Möglichkeiten an, die Nacht zu verbringen. Wir entschieden uns, auf dem Dach seines Offices zu übernachten und schlugen dort unser Zelt auf, mitten in der Stadt Gaziantep.
Baris arbeitete für ein Online-Learning-Startup namens OTTO. Alle 7 “Angestellten” waren unter 25 Jahre alt und arbeiteten sehr hart daran, ihr Produkt an türkische Universitäten zu verkaufen. In dieser Nacht arbeiteten sie alle bis 1 Uhr morgens. Zu dieser Zeit schliefen wir bereits in unserem Zelt auf dem Betondach, umgeben vom Straßenlärm von Gaziantep.
Baris hatte auch schon in Deutschland, Italien und Frankreich gelebt. Er ist Kurde, 27 Jahre alt und glaubt sehr stark an Allah. Er wollte nach den vielen Jahren Untreue gegenüber dem Islam seinen Körper und seinen Geist zum Gehorsam erziehen. Er bestrafte sich selbst mit Fastentagen, wenn er Fehler beging. “Es fühle sich aber nicht wie eine Strafe an, sondern eher wie ein Näherkommen zu Allah,” meinte Baris. An diesen Tagen fühlte er sich Allah sehr nah und verbunden. Es erinnerte ihn daran, dankbar zu sein. Er möchte seinen Verstand lenken und kontrollieren können.
Baris hielt sich früher nicht an die strengen islamischen Regeln. Er rauchte, trank Alkohol und erzählte Witze über Gott. Doch eines Tages erkrankte er. Baris fiel in eine tiefe Depression, die ihn fast umbrachte. Kein Arzt konnte im helfen. Die normalen täglichen Gewohnheiten wie der Gang zur Toilette, Essen, Trinken und Schlafen waren plötzlich nicht mehr möglich. Diese Situation veränderte sein Denken und Verhalten schlagartig.
Neben der Einnahme von Medikamenten versuchte er auch, selbst einen Weg aus der Depression zu finden. Er begann, sich dem Islam zuzuwenden und zusätzlich seine Träume zu kontrollieren. Da er in dieser Zeit nicht schlafen konnte, machte es für ihn Sinn zu lernen, wie man weiter träumen kann, ohne dabei aufzuwachen.
Baris begann viel zu fasten und zu beten, um seinen Körper zu reinigen. Er wurde damit die “Sünden” und auch die giftigen Elemente in seinem Körper los, fühlte sich immer stärker und sein Zustand verbesserte sich. Diesen Weg geht er immer noch und ist fest davon überzeugt, dass Allah ihn weiterhin unterstützt.
Suada ist eine Freundin von Baris und auch sie hatte eine interessante Lebensgeschichte zu erzählen. Sie stammte aus Bosnien-Herzegowina, war in Deutschland aufgewachsen und lebte jetzt in der Türkei. Ihre Familie war nicht streng muslimisch, aber sie selbst hatte sich dafür entschieden, dem Islam mit all seinen Einschränkungen für die Frauen, zu folgen. Deshalb trug Suada einen Hidschab (Kopftuch) und lange Kleidung.
Das war für uns die Gelegenheit, viele Fragen zum Leben einer Frau im Islam zu stellen. Sie war offen und bereit, alle Fragen zu beantworten. Die wichtigste Frage für mich war, warum sie sich entschieden hatte, ein Kopftuch zu tragen und sich zu verhüllen. “Dies sei ihre einzige Möglichkeit gewesen, Gott zu gefallen,” meinte sie. Sie tat alles, um ihm zu gefallen, damit er vielleicht etwas Gutes für sie tat.
„Das Kopftuch dient dem Schutz der Frauen. Männer fühlen sich weniger zu ihnen hingezogen“, meinte sie. Männer müssen eigentlich den Blick senken, wenn sie eine Frau sehen. Ali, ein anderer Freund von Baris, erzählte uns, dass es noch einen anderen Grund für die Verschleierung gibt. Dies geht weit in die Geschichte zurück. Früher zeigte man mit der Verschleierung, dass man kein Sklave war. Nur Sklaven trugen kurze Kleidung, lange Kleidung zeigte Reichtum.
Als wir das Café verlassen wollten und es um’s Bezahlen ging, versicherte mir Suada, dass Frauen hier nie bezahlen. Ich sollte mir also keine Sorgen machen, die Männer übernehmen das. Noch nicht einmal ein „Danke“ schien ihr notwendig. Auch als Baris sie einen langen Weg nach Hause fuhr, bedankte sie sich nicht… vielleicht war das hier normal.
Da in Gaziantep, aufgrund der nahen Grenze (nur 60 km entfernt), 2-3 Millionen Flüchtlinge lebten, gab es einen großen kulturellen Einfluss aus Syrien. Im Startup arbeiteten ausschließlich junge syrische Studenten und Baris als Kurde. Die beiden Firmeninhaber waren Syrer, die sich mit uns zum Fußball und Kickboxen trafen.
Außerdem nahmen sie uns in ein syrisches Restaurant mit, in dem wir ein absolut köstliches und umfangreiches Abendessen zu uns nahmen. Die Reste nahmen wir mit, was alle sehr lustig und ungewohnt fanden. Aber wir wollten das gute Essen nicht verschwenden.
Nach dem Abendessen gingen wir alle auf die Dachterrasse, um ein Bier zu trinken. Klingt für uns nach einer ganz normalen Aktivität, aber für die Syrer war es das nicht. Normalerweise war es für sie verboten, Alkohol zu trinken. Wenn ihre Eltern darüber Bescheid wüssten, würden sie ihre Söhne wahrscheinlich verstoßen. Im Islam ist, Alkohol zu trinken ein schlimmeres Verbrechen als Stehlen.
Im Büro halten sich die meisten von ihnen sehr streng an die gesetzten Regeln. Die drei, die wir auf ein Bier eingeladen hatten, hatten seit einem Jahr nichts mehr getrunken. Sie baten uns eindringlich darum, dass es ein großes Geheimnis bleiben sollte. Deshalb erwähnen wir auch keine Namen :-).
Die drei Jungs wollten auf dem Dach “Pflicht oder Wahrheit” spielen. Es fühlte sich an, als würden drei junge Teenager an einem geheimen Ort zusammen ein Bier trinken und zum ersten Mal all diese Teenagerspiele spielen. Es war ein schöner Abend für uns alle.
Die geflüchteten Syrer befanden sich hier in einer wirklich heiklen Situation. Nach Syrien zurückzukehren ist im Moment sehr gefährlich. Da sie das Land verlassen hatten, galten sie als “Verlierer und Verräter”, die nicht für ihr Land gekämpft hatten.
In der Türkei zu bleiben bedeutet, dass sie zwar akzeptiert werden und arbeiten dürfen, jedoch kaum Rechte haben. Leider erhalten sie auch keine Staatsbürgerschaft und dürfen daher die Stadt, in der sie leben, nicht verlassen. Selbst wenn sie 50 km aus Ganziantep herausfahren wollten, müssen sie die Regierung um eine Erlaubnis bitten.
Einer von ihnen interessierte sich sehr für Astrologie und die Sterne. Er bekam nie mal die Gelegenheit, so weit aus der Stadt rauszufahren, um dem Lichtersmog zu entgehen und die Milchstraße zu sehen. Das war sein größter Traum.
Mir standen fast die Tränen in den Augen, als ich das hörte. Wie oft durfte ich schon die Milchstraße sehen ……
Ich wollte wissen, wie es um die Akzeptanz von Schwulen und Lesben in Syrien steht. Sie lachten, da es dort für Homosexualität kein Verständnis gibt. Zero-Toleranz für Schwule und Lesben. Die Strafe ist, noch bis heute, dass die Syrer sie von einem hohen Gebäude herunterstoßen und sie töten. Aber ansonsten kümmerten sich die Syrer gut um jeden Menschen, der geboren wird. Auch wenn das Neugeborene behindert ist. Allah hat es in jedem Fall so gewollt und auch so entschieden.
Die Ehen waren meist arrangiert. Sehr oft heirateten in den großen Familien Cousins und Cousinen untereinander. Ein Familienmitglied hat manchmal 60 (Groß-) Cousins und Cousinen, so dass es fast schwer ist, jemanden zu finden, der nicht mit einem verwandt ist. Alle drei wollten jemanden finden, den sie wirklich lieben. Wir hoffen, dass sie das schaffen. In ihrer Kultur ist das aber nicht so leicht, da Männer normalerweise Frauen nicht einfach anreden oder sich mit ihnen verabreden dürfen.
Wir fragten Baris, der ein überzeugter Muslim ist, warum die Leute rauchen. Wir verstanden, dass der Koran einerseits will, dass der Körper rein und gesund ist, und dass deshalb weder Alkohol noch Schweinefleisch erlaubt sind. Aber wie vereinbart sich dann das Rauchen mit dem Koran?
Baris versuchte zu erklären, dass es zu der Zeit, als der Koran geschrieben wurde, keine Zigaretten gab. Die Menschen rauchten Kräuter und glaubten dass es eine Art Medikament sei. Es wurde nicht als Droge angesehen. Deshalb wird das Rauchen im Koran nicht verboten.
Und dann der Hidschab: Frauen tragen das Kopftuch, damit Männer sie nicht anziehend finden. Aber gleichzeitig verwenden Frauen viel Make-up. Ihr farbenfrohes Kopftuch kombinieren sie attraktiv mit ihren Kleidern, was meiner Meinung nach, sogar noch mehr auffällt? Baris erklärte dies mit der neuen Generation, die einerseits versuchen, sich an die Regeln zu halten und andererseits sich trotzdem schick zu machen. Es liegt in der Natur der Frauen, mit ihrem Charme zu spielen.
Viele Fragen und Antworten, die uns halfen, den Koran und den Islam besser zu verstehen. Gleichzeitig hatten wir aber auch das Gefühl, dass unsere Fragen Baris und seine Freunde dazu brachten, einiges zu hinterfragen.
Da Baris abreiste, beschlossen wir, Gaziantep ebenfalls am nächsten frühen Morgen zu verlassen. Wir werden wieder trampen. Es war wieder gar kein Problem von A nach B zu kommen.
Die letzten Fahrer, Beyram und Mehmet, zeigten uns beim Anhalten einige türkische Lira. Wir dachten, dass sie Geld für die Fahrt verlangten. Bastian holte einige Scheine aus seiner Tasche und fragte nach dem Preis. Aber Mehmet schüttelte nur den Kopf. Wir hatten sie falsch verstanden, denn sie wollten uns Geld anbieten 😀 .Wir lehnten ab und bedankten uns bei ihnen für die Fahrt.
Als sie gingen, lachten wir und schauten an uns herunter. Entweder sahen wir wie Obdachlose aus oder es war nur ihre Art, nett zu sein.
Ein lustiger, energischer kleiner kurdischer Schönheitsarzt Aydin war unser Couchsurfing Host in Sanliurfa. Da er beruflich in vielen europäischen Ländern unterwegs war,sprach er etwas Englisch. Als er uns erzählte, dass er mit seiner Cousine verheiratet ist, konnten wir es kaum glauben 😉 Wie wir erst gestern von den Syrern erfahren hatten, kommt das hier sehr häufig vor. Ich googelte, wie hoch das Risiko ist, dass Babys zweiten Grades behindert sind: es war nicht so hoch, wie man denken würde, es lag bei ca. 1,56%. Bei höhererm Risiko würden sie sicher aufhören, mit ihren Verwandten Kinder zu zeugen.
In der Osttürkei war Aydin der dritte Mensch, der sich uns gegenüber über Hitler äußerte und Witze über ihn machte. Er zeigte uns den Hitlergruß und lachte laut, während er meinte, dass Erdogan genauso sei.
Wir konnten nicht wirklich herausfinden, ob er Erdogan unterstützte oder nicht. Normalerweise ist das üblich in der Zentral- und Osttürkei und sie befürworten sein Vorgehen.
Urfa selbst schien wie eine Stadt im Iran oder in Syrien zu sein. Zumindest stellten wir uns das so vor. Es gab viele kaputte Gebäude, magere und drahtige Menschen und die meisten Frauen voll verschleiert. Moschee an Moschee, damit alle Platz finden für die fünf Gebete am Tag.
Wir trafen einen Allgemeinarzt, der im örtlichen Krankenhaus in Urfa arbeitete. Er erzählte uns von der kritischen Situation in der Stadt. Alle 60 Betten der Intensivstation waren mit Corona-Patienten belegt. Und jeden Tag kamen neue Fälle hinzu. Im Moment war die Lage noch einigermaßen unter Kontrolle, aber er hatte Angst, was in ein oder zwei Monaten passiert, wenn die Grippe auch noch hinzukommt. Dann würde ihnen der Platz ausgehen. “Seht zu, dass ihr, entweder bald in ein sicheres Gebiet geht, oder zurück nach Deutschland fliegt”, riet er uns.
Doch unsere Reise geht noch lange nicht zurück nach Deutschland…