Bastian und ich freuten uns sehr darauf, unseren Freund Isa aus Istanbul wiederzusehen. Er hatte uns für das größte Fest der Muslime – dem Bayram nach Fethiye zu seiner Familie eingeladen. Wir trafen vor Isa bei seinem Familienhaus ein und wir waren uns zunächst nicht sicher, ob wir uns am richtigen Ort befanden. In diesem Gebäude wohnten 4-5 Familien und es schien, als ob alle miteinander verwandt wären.
Alle Türen waren offen. Eine Frau putzte vor dem Haus die Treppe und schaute uns neugierig an. Das musste Isas Mutter sein. Sie sah aus wie eine weibliche Kopie von Isa. Wir stellten uns vor und wurden hereingebeten. Sie war darüber informiert, dass wir kommen würden.
Als Isa ankam, begrüßte ihn seine Mutter mit einer großen Umarmung. Sein Vater verpasste ihm nur eine Faustbombe und seine Schwester schaute ihn nicht einmal an. Isa hatte uns schon erzählt, dass das Verhältnis zu seiner Schwester, aufgrund der Unterstützung, die er während seines Studiums erhalten hatte, ein wenig angespannt ist.
Es war die Zeit des Bayram-Festes, des Opferfestes in der Türkei. Für diesen Feiertag hatten die Frauen begonnen, Essen für das große Schlachtfest vorzubereiten. Sie backten Brot und Börek, ein traditionelles türkisches Gebäck.
Eine der Frauen beeindruckte uns sehr. Sie rollte den Teig 9 Stunden lang, ohne ihre Sitzposition einmal zu verändern. Sie saß vor einem offenen Feuer bei 32° Außentemperatur. Und es war sehr schön zu sehen, wie all diese Frauen zusammenarbeiteten. Wenn eine Frau kam, ging eine andere. Insgesamt waren es etwa sieben Frauen, die sich gegenseitig abwechselten. Die Frauen backten Unmengen von Brot, um es unter allen zu teilen. Sie teilten es auch mit den armen Leuten in ihrer Nachbarschaft. Die Männer schauten den Frauen bei diesem Vorgang nur zu.
Normalerweise arbeiteten die Männer in der Landwirtschaft und sie hatten während der Tomatensaison einige harte Tage. Aber momentan ist keine Erntezeit und so genossen sie ihre Ruhepause.
Es war ein brutaler und blutiger Tag – zwei Schafe sollten geschlachtet werden und das Fleisch für Familie, Freunde und Arme zubereitet werden. Isas Vater und alle älteren Jungen der Familie halfen dabei. Die beiden Schafe wurden auf der Ladefläche des Pickups im Nachbardorf abgeholt.
Isa, seine Cousins und sein Vater führten das erste Schaf ruhig in den Garten. Bastian und Isa hatten vorher ein Loch gegraben, in welches das Blut fließen sollte. Sie hielten das Schaf an allen vier Füßen und legten das kräftige männliche Schaf hin.
Zärtlich streichelten die Männer das Schaf, bis es ganz ruhig war. Sie sangen und beteten und das Schaf hörte ganz entspannt zu. Sie glauben, dass das Schaf ein Geschenk Allahs ist, obwohl sie am Tag zuvor dafür bezahlt hatten. Man dankte Allah dafür.
Dann ging plötzlich alles ganz schnell. Der Vater schnitt dem Schaf mit einem genau gesetzten Schnitt die Kehle durch und riß ihm den Kopf nach hinten, was ihm das Genick brach. Ein paar Minuten lang versuchte das sterbende Schaf durch die aufgeschnittene Kehle zu atmen. Das Blut spritzte herum, das Schaf zuckte heftig, doch auch das wurde schnell weniger…
Auch wenn das Sterben brutal anzusehen war, waren wir uns sicher, dass dies humaner war als in irgendeinem europäischen Schlachthaus. Die Muskeln bewegten sich noch eine Weile weiter, aber die Bewegungen wurden immer langsamer. Das erste Mal sahen wir bewusst und gewollt ein Tier vor unseren Augen sterben. Etwas schlecht wurde mir dabei schon.
Wir waren wohl die Einzigsten, denen der Anblick zu schaffen machte. Die Kinder jedenfalls aßen genüsslich ihr Eis, während dem nun aufgehängten Schaf die Haut abgezogen wurde. Dafür pumpte man dem Schaf mit einer Fahrradpumpe Luft unter die Haut. Das aufgeblähte Schaf hing an einem Haken und ein Teil der abgetrennten Haut an einem Lastwagen. Der Lastwagen fuhr ein Stück vor, um die restliche Haut abzuziehen. Für unser Empfinden auch wieder etwas makaber. Die Organe wurden vorsichtig entnommen. Einige davon werden gegessen und die restlichen im gleichen Loch im Garten vergraben, in dem auch das Blut gesammelt wurde.
Der wohl spannendste Moment für die anderen war das Wiegen des Fleisches. Es war spannend zu erfahren, wieviel verwertbares Fleisch so ein Schaf hergibt. Isa’s Vater schien sich über die Menge des Fleisches zu freuen. Das erste Schaf lieferte 25 kg Fleisch, das zweite 28 kg.
Später lud man alle ein, das Fleisch zu probieren. Es schmeckte köstlich, obwohl wir all diese Bilder im Kopf hatten.
Am Abend gab uns Isa in einem Gespräch viele Einblicke in seine Kindheit. Seine Mutter lernten wir nur als eine sehr gute und herzliche Person kennen. Und Isa liebte sie. Aber er hatte einige traumatisierende Erinnerungen, wie seine Mutter und seine Großmutter ihn erzogen hatten.
Wenn seine Mutter tagsüber arbeiten musste und seine Oma nicht auf ihn aufpassen konnte, banden sie Isa einfach an die Leine wie einen Hund. Er war manchmal stundenlang angeleint. Auch wenn es Streit mit den anderen Kindern der Familie und Nachbarschaft gab, war meist Isa Schuld, da er das älteste Kind war. Isa’s Großmutter schlug ihn dafür oft.
Noch schlimmere Strafen waren die heißen Duschen, zu denen er gezwungen wurde: Seine Mutter und Großmutter zwangen ihn, mit kochendem Wasser zu duschen. Isa verbrannte sich mehrmals die Haut. Isa’s Mutter wurde durch seine Oma kontrolliert und dazu gezwungen, Isa so zu behandeln. Sie war für ihr Kind nicht stark genug, um sich gegen ihre Mutter zu stellen.
Isa’s Mutter war leider generell leicht zu beeinflussen. Sie beging vor ein paar Wochen einen großen Fehler. Sie war bei einer Wahrsagerin, da sie mit ihrem Leben sehr unzufrieden war. Ihr Mann schenkte ihr nicht genügend Anerkennung und Aufmerksamkeit.
Die Wahrsagerin verlangte, dass sie 100 000 türkische Lira (etwa 12 000 €) an sie zu zahlen hätte. Wenn sie dies nicht täte, dann würde ihren Kindern etwas Schlimmes zustoßen. Was tat also Isa’s Mutter? Natürlich bezahlte sie unsinnigerweise.
Sie bat ihren Sohn, ihre Familie und Freunde um Geld, ohne zu sagen, wofür sie es brauchte. Am Ende musste sie ihrem skeptisch gewordenen Ehemann und ihren Kindern doch die Wahrheit sagen. Ihr Mann war außer sich, schockiert und wütend. Isa befand sich zu dieser Zeit nicht zu Hause und hatte Angst, dass sein Vater seiner Mutter etwas antun könnte. Aber irgendwie arrangierten sich Beide damit.
Sie nahmen sich einen Anwalt und versuchten nun, ihr Geld zurückzubekommen. Aber es ist eher unwahrscheinlich, dass sie ihr Geld zurückbekommen werden. Sie taten uns leid. Isa’s Mutter versuchte eigentlich die Situation zu verbessern und wurde mit ihrer Leichtgläubigkeit reingelegt.
Vor ein paar Tagen erfuhr Isa, dass er und seine Schwester noch eine Schwester von einer dritten Frau ihres Vaters haben. Sein Vater gestand es ein. Isa war traurig, weil sein Vater dieses Geheimnis 25 Jahre lang vor ihnen allen geheim gehalten hatte. Isa war sich unsicher, ob er sie kennen lernen möchte.
Am nächsten Tag kam Isa’s Freundin zum ersten Mal zu seiner Familie. In der Türkei ist das ein spannender Moment: wie würde die Familie Irem aufnehmen?
Normalerweise läuft es in traditionellen Familien anders ab. Die Eltern suchen eine Frau aus und dann treffen sich die Kinder und entscheiden, ob sie heiraten möchten. Isa handhabte es etwas moderner, was für seine traditionellen Eltern anfangs schwierig war, zu akzeptieren. Nun sah man aber, dass sie sich für Irem viel Mühe gaben.
Die Familie hatte ein schönes “Kahvalti” (Frühstück) vorbereitet. Man konnte spüren, dass die Familie Irem willkommen heißen, aber ihr gleichzeitig auch nicht allzu offen gegenübertreten wollte.
Nachdem wir eine Woche bei der Familie verbracht hatten, wussten wir, dass es Zeit war, uns zu verabschieden. Es fiel uns schwer, denn wir hatten alle sehr gut kennengelernt, auch ohne die gleiche Sprache zu sprechen. Wir schätzten es sehr, dass sie uns an ihrem traditionellen türkischen Leben teilhaben ließen. Wir lernten viel über ihre Kultur und ihre Regeln.
Mit Tränen in den Augen verließen wir Fetihye. Wir wollten den Lucian Trail entlang der Küste wandern und entspannt am Strand übernachten. Ich denke, wir brauchen nicht einmal unser Zelt. Einfach direkt unter den Sternen am Wasser schlafen würde ich mir wünschen…