Es waren etwa 3 Tage vergangen, als Bastian und ich im Internet nach kulturellen Organisationen in der Nähe des Issyk-Kul-Sees recherchierten. Beim Stöbern fanden wir eine NGO namens Destination South Shore. Auf ihrer Website boten sie kulturelle Touren wie Jurtenbau-Workshops oder den Besuch in einer Filz- und Teppichfabrik an.
Bei einem Angebot begannen Bastian´s Augen zu leuchten: Ein Treffen mit einem echten kirgisischen Adlerjäger.
“Viviane, wir müssen sie unbedingt kontaktieren!” Einen
Adlerjäger zu treffen, war schon seit vielen Jahren Bastian´s Traum.
Also kontaktierten wir sie. Wir setzten uns direkt per
E-Mail mit dem Ansprechpartner der Organisation Destination South Shore in
Verbindung und fragten nach, ob sie an einem Austausch interessiert wären. Wir
dachten daran, dass sie uns auf eine ihrer Touren mitnehmen und wir Foto-
und Videomaterial für sie produzieren und bereitstellen würden. Sie könnten es als Marketingmaterial
für beliebige Kanäle verwenden.
Keine Antwort.
“Ok, letzter Versuch”, sagten wir uns und
kontaktierten eine andere Nummer, die wir online gefunden hatten.
“Erfolg!” Dieses Konto war noch aktiv und
Nazira von Destination South Shore antwortete uns, dass sie sich sehr freuen würde,
uns zu treffen. Jeder kann sich jetzt vorstellen, wie aufgeregt wir waren. Videos
drehen und dabei die Natur und Kultur des Landes erkunden, das klang
fantastisch. Wir bedankten uns bei ihr und teilten ihr mit, dass wir aber nur ein
paar Tage bleiben wollten. Wir dachten da an 3-4 Tage.
Zu diesem Zeitpunkt wussten wir noch nicht, dass wir länger als 2 Wochen bei Destination South Shore bleiben würden. Es gab einfach so viel zu tun, so viel zu sehen und so viel zu erleben.
Alibek, unser „Betreuer“ lebte immer noch bei seinen Eltern und er und seine Frau betrieben dort ein gemütliches kleines Gasthaus. Auf die Frage hin, ob er gerne woanders oder im Ausland leben wollte, antwortete er klar mit Nein. Für ihn käme das gar nicht in Frage, denn er sah es als Glück an, der jüngste Sohn in der Familie zu sein.
Von allen Kindern ist der jüngste Sohn derjenige, der für immer bei den Eltern lebt. Wenn sie alt werden, wird er sich um sie kümmern und sie auch finanziell unterstützen.
Mit Alibek hatten wir während eines Mittagessens, ein weiteres interessantes Gespräch. Er brachte uns zwei weitere Dinge über die kirgisische Kultur bei. Erstens: Kirgisische Männer dürfen mehr als nur eine Frau besitzen, aber das ist äußerst selten. Zweitens: Eine Frau trinkt nach der Heirat keinen Alkohol mehr.
Es ist ihnen einfach verboten. Wenn der Ehemann sieht, dass seine Frau trinkt, würde er sie schlagen und prügeln. Selbst Alibek, der schon einmal die deutsche Kultur bei einem Austausch kennen lernte und mit Sicherheit verheiratete Frauen beim Trinken gesehen hatte, ist sich zu 100 % sicher, dass eine Frau einfach nicht zu trinken hat. “Ich würde sie schlagen, denn sie ist verantwortlich für unsere Kinder,” so Alibek´s Worte. Er kontrollierte schon seine Schwester, bevor sie noch nicht verheiratet war, um sicherzustellen, dass sie nicht trinkt. Dass wir das in Deutschland anders handhaben war für Alibek unverständlich. Doch so sind die Kulturen eben verschieden.
Zusammen mit Destination South Shore versuchte Alibek nicht nur Touren anzubieten, sondern auch die Natur durch kulturelle und wirtschaftliche Projekte vor dem Massentourismus zu schützen.
In den nächsten drei Jahren versuchen er und Destination South Shore, das Zertifikat als UNESCO Geo-Naturreservat zu erhalten. Somit würden Natur und Kultur unter dem Schutz der UNESCO Organisation stehen und es gäbe strenge Regeln für den Tourismus. Es ist jedoch sehr schwer, alle Voraussetzungen für ein Zertifikat zu erfüllen. Auf der ganzen Welt gibt es nur etwa 150 Reservate. Dieser Geopark würde die südliche Bergregion von Issyk-Kul mit ihrer einzigartigen Natur und Kultur schützen.
Nachdem wir die Bedeutung und den Sinn hinter seiner Arbeit verstanden hatten, waren wir begeistert und motiviert, dieses Projekt zu unterstützen. Unsere Aufgabe war es also, die Kultur, die Natur und das Leben der Menschen im Süden des Issik-Kul Sees in Videos und Bildern festzuhalten.
Während unseres Aufenthaltes in Bokonbaevo, organisierte Alibek fast jeden Tag Ausflüge oder Treffen mit Einheimischen, damit wir Bilder und Videos erstellen konnten. Jeder Tag war für uns anders und einzigartig. Es war spannend, alles über die kirgisische Kultur zu erfahren.
Kirgisen lebten bis 1910 als Nomaden, bis die Sowjets nach Kirgisistan kamen und mit Ihrer eigenen Kultur begannen, die Kirgisen zu unterdrücken. Es wurde ihnen verboten, die eigene kulturelle Kleidung herzustellen oder anderes traditionelles Handwerk auszuüben. Auch die Adlerjagd war zu dieser Zeit nicht erlaubt. Die kirgisischen Nomaden waren somit gezwungen, sich an einem Ort niederzulassen und in den Fabriken, die die Sowjets errichteten, ihr Geld zu verdienen. Als die Sowjets wieder abzogen, begann die Kultur wieder aufzuleben.
Begegnung mit einem kirgisischen Adlerjäger
Es dauerte nicht lange, bis wir die Gelegenheit hatten, unseren ersten Adlerjäger zu treffen.
Ruslan trug seine traditionelle Jagdkleidung, als er uns seine Adler vorstellte. Die drei Adlerweibchen hatten alle unterschiedliche Jagdcharaktere. Eine von ihnen war sehr schnell, die andere lauerte gut, um Beute zu finden, und die letzte war die Stärkste. Sie konnte die Tiere ganz allein töten. Es war nicht nötig, dass Ruslan eingreift, um diesem starken Adler zu helfen. Normalerweise unterstützte er den Adler, indem er die Beute mit einem Messer tötete.
Wir haben Ruslan gefragt: “Wirst du traurig sein, wenn du deine Adler freilässt?”
Er antwortete: “Nein, das ist der Deal, den ich mit den Tieren habe, und ich weiß es von Anfang an…” Ruslan hielt eine Sekunde inne und fuhr dann fort: “…oder doch, es wird vielleicht ein bisschen weh tun.”
Ich bin mir sicher, dass dieser Schritt schwer sein wird, weil sie eine sehr enge Beziehung aufgebaut haben.
Durch unsere vielen Fragen erfuhren wir noch mehr über die Tradition der Adlerjagd. Sie reicht weit in die kirgisische Geschichte zurück. Damals ernährten die Menschen ihre Familien mit der Beute, die der Adler jagte. Heute ist es für den Adlermann eher ein Hobby.
Auch Ruslan, ein Adlerjäger aus Bokonbaevo hatte einen anderen Job. Die drei Adler, die er besitzt, sind allesamt Weibchen und wiegen 5-6 kg. Männliche Adler sind nicht so stark, wie die weiblichen und viel kleiner.
Er muss die drei starken Weibchen in getrennten Käfigen halten, weil sie sich sonst gegenseitig bekämpfen würden. Die Adlerweibchen greifen jeden und alles an, der ihr Revier betritt, einschließlich den Menschen. Deshalb gab er uns den Rat, nicht mit der Hand in ihren Käfig zu greifen. Er bildet sie von klein an aus und sie leben ca.12-15 Jahre bei ihm, bevor er sie wieder in die freie Wildbahn entlässt.
Die Adler trugen alle ein Lederband um ihre Krallen. Damit wurden sie festgehalten oder auch mal festgebunden. Sie trugen es die ganze Zeit, wenn sie mit Ruslan arbeiteten. Wenn er sie freilässt und ihre gemeinsame Zeit vorüber ist, schneidet er das Band durch. Dieses Durchschneiden des Lederbandes hat eine symbolische Bedeutung. Es ist ein starkes Lederband, das ihre jahrelange Beziehung symbolisiert. Er wird das Leder für immer als Erinnerung aufbewahren.
Ruslan hörte für einige Sekunden auf zu sprechen und atmete tief durch. Es fiel ihm schwer über diesen Moment zu sprechen, der irgendwann kommen wird. In diesen stillen Sekunden bekamen wir eine Gänsehaut.
Die Tatsache, dass ein Adler 60 Jahre alt werden kann, wird diesen Giganten des Himmels noch viel Zeit in Freiheit geben.
Hoch zu Ross mit den Adlern Jagen
Es war zwar nicht Ruslan, der uns mitnahm, aber Salavat fuhr zwei Tage später in die Berge, um zu jagen. Er lud uns ein, ihn zu begleiten.
Als wir an diesem Morgen die Augen öffneten, fiel uns sofort ein, dass dies der Tag war, auf den wir so lange gewartet hatten: Wir würden mit den majestätischen Adlern in die Berge zum Jagen gehen!
Was für eine einmalige Chance in unserem Leben. So ein Erlebnis gibt es nicht zu kaufen… und wir dürfen es, als Gegenleistung von Bildern und Videos, erleben. Was für ein Geschenk!
Wir begannen “früh” am Morgen, was nicht unbedingt Alibek´s Zeit zum Aufstehen war. In Kirgistan war es manchmal schwierig, etwas zu planen. Je mehr Leute beteiligt waren, desto schwieriger wurde es. Die Kirgisen waren sehr offen und motiviert, etwas zu unternehmen, aber im Vergleich zu anderen Nationen ändern sie ihre Pläne auch genauso schnell.
Für Alibek, der bereits alle 5 Minuten seinen eigenen Plan änderte, war es nicht einfach, 5 Pferde, 1 Transporter und die beiden Adlerjäger zu organisieren. In der Nacht zuvor rechneten wir mit 2 Adlerjägern und fünf Pferden. Am nächsten Tag war es nur noch ein Adlerjäger und keine Pferde.
Aber in Kirgisistan ist das auch eher ein spontanes Geschäft und so fand Alibek doch noch am selben Morgen 4 Pferde und einen Transporter.
Nur eine Stunde später als geplant fuhren die vier Pferde auf der Ladefläche eines Pickups an unserem Treffpunkt vor. Wir öffneten die Tür des Pickups und der 24-jährige Adlerjäger Salavat begrüßte uns mit seinen beeindruckenden Tieren.
Dabei waren ein zerzauster dürrer Windhund und das majestätische Adlerweibchen. Wir saßen bereits im Pickup, als ich bemerkte, wie die Pferde transportiert wurden. Sie waren nicht gesichert, sondern nur an den Verstrebungen des Pickups festgebunden, damit sie nicht herausspringen konnten.
Wir fuhren etwa 45 Minuten durch Flussbette, über Wiesen und Geröll zu einem verlassenen Bauernhaus. Das Haus in den Bergen war umgeben von Schafherden, Kühen, Pferden, Bergen und Flüssen.
Wir setzten rückwärts an einen kleinen Erdhaufen ran, der dazu diente, die Pferde vom Pickup zu führen. Das hatten wir uns tatsächlich schon vorher gefragt… wie sind die Pferde auf den Pickup hochgekommen und wie kommen sie wieder ohne Verladerampe runter.
Die Pferde schienen an diese Prozedur ebenso gewöhnt zu sein wie an die Blessuren, die sie nach der holprigen Fahrt hatten. Robust und stark sind diese Tiere. In Deutschland wäre so ein Transport undenkbar. Die Pferde wurden gesattelt, der Jagdhund konnte es kaum erwarten und dann ging es endlich los!
Salavat sprang mit dem Adler auf dem Arm auf sein Pferd. Er band den Hund an den Sattel und wir ritten alle zusammen los. Was für ein magischer Moment.
Bastian´s Pferd ging deutlich lahm und hatte eine offene Wunde unter dem Sattelgurt… aber was soll man machen. Die kirgisischen Pferde waren das gewohnt. Dafür lebten sie außerhalb der Arbeit in einer Herde in Freiheit, ohne Zaun oder Stall. Wir ritten etwa eine Stunde lang in die Berge hinauf und hielten Ausschau nach kleinen Tieren, wie z.B. ein Kaninchen oder einen Fuchs.
Plötzlich und ohne Ankündigug begann Salavat mit seinem Pferd zu galoppieren. Wir wussten nicht, was er sah, aber unsere Pferde folgten ihm. “Ein Fuchs!” schrie Salavat.
Bastian hielt immer noch seine Kamera in der einen Hand und versuchte, sich mit der anderen an der Mähne seines hinkenden Pferdes im Galopp festzuhalten. Ich hatte Respekt davor, wie er es schaffte, nicht herunterzufallen und während des Reitens auch noch zu fotografieren. Er war noch nicht so oft geritten.
Unsere Pferde waren außer Atem, als Salavat noch versuchte, näher an den Fuchs heranzukommen. Aber auch er musste aufgeben, denn der Fuchs war weiter oberhalb und verschwand in einem Fuchsbau. Er erklärte uns, dass dies der Schwachpunkt des Adlers sei, denn er müsse immer höher als die Beute sein, um jagen zu können. Der Adler kreist normalerweise hoch oben in der Luft, und wenn er etwas weiter unten entdeckt, greift er in wenigen Sekunden an.
Salavat hatte nun den Adler freigelassen, um von ihm Hilfe zu bekommen! Ich war mir sicher, dass dieser Adler nie wieder zurückkommen würde. Bevor Salavat den Adler freiliess, gab er dem Adler einen Bissen von einer Taube, die er mitgebracht hatte. Das würde den Adler daran erinnern, woher er sein Futter bekommt und würde zurückkommen.
Der Adler begann seine Flügel auszubreiten und zog über uns in der Luft seine Kreise. Immer höher und höher. Wieder ein Moment, in dem ich dachte, wir hätten ihn verloren. Er war fast zu weit weg, um ihn zu sehen und die Sonne blendete uns. Salavat machte ständig Geräusche und pfiff, um ihm Signale zu geben. Der Adler jedoch dachte nicht daran zurückzukommen.
Er genoss seine Zeit dort oben. Nachdem wir 15-20 Minuten gewartet hatten, während der Adler das Gebiet erfolglos abgesucht hatte, holte Salavat ein Fuchsfell aus seiner Tasche und befestigte es an einer langen Leine. Er rannte damit plötzlich los. Während wir noch schauten, was Salavat tat, raste der Adler im Sturzflug, mit mehr als 250 km/h heran und griff das Fuchsfell an. In diesem Moment wurde uns klar, dass der Adler uns die ganze Zeit von dort oben beobachtet hatte. Er sieht nämlich messerscharf.
Wir waren zutiefst beeindruckt und konnten nicht glauben, was für ein starkes und schnelles Tier dieses Adlerweibchen war. Ein Fuchs hätte in dem Moment wirklich keine Chance gehabt. Salavat ließ ihn ein zweites Mal fliegen. Diesmal waren wir bereit für Fotos und Videos. Aber der Sturzflug war trotzdem schwer einzufangen.
Fast hätten wir die grasenden Pferde vergessen. Sie fraßen in Ruhe und offenbar unbeeindruckt von allem, was um um sie herum geschah. Wir schwangen uns wieder in den Sattel und machten uns auf den Rückweg. Mit all diesen Eindrücken im Kopf ritten wir die Berge wieder hinunter. Erst jetzt merkten wir, wie kalt es war und dass wir unsere Finger fast nicht mehr bewegen konnten.
Zurück auf der Farm mussten die Pferde wieder auf den Pickup springen. Man konnte ihnen ansehen, wie gestresst sie waren, als sie merkten, dass ihnen eine weitere holprige Fahrt bevorstand. Es war schwer für sie, das Gleichgewicht zu halten, da die Wege nicht gepflastert waren und viele Flüsse, Löcher und Felsen überquert werden mussten.
Als wir in Bokonbaevo zu unserer Unterkunft zurück liefen überraschte uns ein Gewitter mit starkem Regen. Es wäre schön gewesen, nach diesem Tag noch eine heiße Dusche nehmen zu können, aber dieser Traum ging nicht in Erfüllung. Tja, man kann eben nicht alles haben
Unsere Zeit bei dem Projekt neigte sich langsam dem Ende zu. Es war uns ein Vergnügen, an all den Aktionen in Bokonbaevo teilnehmen zu können. Der Abschied war bisher sicher der Schwerste. Ein großes Dankeschön an alle für das Organisieren der Touren und die grenzenlose Gastfreundschaft.
Vielen Dank Bokonbaevo. Wir sehen uns bald wieder…